Vor 70 Jahren, am 10 Dezember 1948, verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte „als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“, wie es in der Präambel heißt. Die Idee der Menschenrechte gab es zwar schon vorher, aber mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde die Idee erstmalig auf die supranationale Ebene gehoben. Seitdem sind die Menschenrechte als weltweite Aufgabe etabliert, und für Amnesty International als weltweit tätige Menschenrechtsorganisation ist die runde Jahreszahl ein gegebener Anlass, an dieses bedeutsame Ereignis zu erinnern.
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte kulminiert eine jahrhundertelange Entwicklung. Schon in vormoderner Zeit lassen sich Vorstellungen über Menschenwürde, ursprüngliche Freiheit und Gleichheit und naturgegebene Attribute des Menschseins feststellen. Die Forderung von Rechten des Einzelnen gegenüber dem Staat aber ist ein neuzeitlicher Gedanke.
Vorläufer finden wir in England: die Magna Charta Libertatum von 1215 statuierte erstmalig Einschränkungen der staatlichen Allmacht über die Untertanen; allerdings betraf das lediglich Rechte der Barone gegenüber der Krone, so dass letztlich nur bereits Privilegierte geschützt wurden. Die Entwicklung zu allgemeinen Bürgerrechten war ein langwieriger Prozess. Erst die Habeas-Corpus-Akte von 1679 gewährte ausdrücklich Schutz gegen ungerechtfertigte Inhaftierung, und erst zehn Jahre später wurden in der Bill of Rights die bestehenden Rechte ausdrücklich bekräftigt. Eine Einschränkung allerdings blieb: Zwar waren Eingriffe in Freiheitsrechte nur mit Zustimmung des Parlaments möglich, aber gegen das Parlament konnten sie nicht durchgesetzt werden.
Weiter als die tatsächliche politische Entwicklung reichten die von Seiten der Philosophie erhobenen Forderungen. Im selben Jahr wie die Bill of Rights, 1689, erschienen von John Locke die Abhandlungen „Two Treatises of Government“. Darin wird das gleiche Recht auf Freiheit wie folgt betont: „Es ist … jenes gleiche Recht eines jeden auf seine natürliche Freiheit ohne Unterwerfung unter den Willen oder die Autorität irgendeines anderen Menschen.“ Begründet wird dieses Recht mit der Vernunftnatur des Menschen; John Locke schreibt: „Des Menschen Freiheit folglich wie auch insbesondere jene Freiheit, die es ihm erlaubt, nach seinem eigenen Willen zu handeln, gründet in seiner Vernunft, denn sie vermag ihn in dem Gesetz, nach dem er sich zu richten hat, zu unterweisen, und verrät ihm, wie weit sein freier Wille über ihn entscheiden darf.“
Das war eine gedankliche Vorwegnahme. Konkret wurden Menschenrechte im Sinne von unbedingten und unveräußerlichen Ansprüchen für alle erstmalig in Nordamerika kodifiziert. Allerdings war das Motiv noch keineswegs die Verbesserung der Welt, sondern die Rechtfertigung bestehender Interessen. Im 18. Jahrhundert war England führende Kolonialmacht mit Kolonien unter anderem in Nordamerika. Mit der Zeit hatten die Kolonien ein erhebliches Selbstbewusstsein gegenüber dem Mutterland entwickelt und waren durchaus nicht mehr bereit, sich ohne ihre Zustimmung Lasten auferlegen zu lassen oder gar Steuern zu zahlen. Die Kolonisten beriefen sich zunächst auf ihre Rechte als englische Bürger. Als dies nicht half, besannen sie sich auf allgemeine Rechte für Menschen. Den Anfang machte die Kolonie Virginia mit der Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776. Abschnitt 1 lautet auf Deutsch folgendermaßen: „Alle Menschen sind von Natur aus in gleicher Weise frei und unabhängig und besitzen bestimmte angeborene Rechte, welche sie ihrer Nachkommenschaft durch keinen Vertrag rauben oder entziehen können, wenn sie eine staatliche Verbindung eingehen, und zwar den Genuss des Lebens und der Freiheit, die Mittel zum Erwerb und Besitz von Eigentum und das Erstreben und Erlangen von Glück und Sicherheit.“
Wenig später, am 4. Juli 1776, als sich 13 Kolonien als Vereinigte Staaten für unabhängig erklärten, stellten sie der Unabhängigkeitserklärung den berühmt gewordenen Passus voran: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“ Wie ernst die Amerikaner diese Rechte tatsächlich nahmen, lässt sich unter anderem daran ablesen, dass sie nicht im Entferntesten daran dachten, sie auch ihren schwarzen Sklaven zukommen zu lassen. Die Verbreitung der Menschenrechte nahm dann auch ihren Ausgang nicht von Amerika, sondern von Frankreich.
Die in der Französischen Revolution erhobenen Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind bis heute wesentlicher Bestandteil der Menschenrechtstradition. Über diese allgemeinen Grundsätze hinaus entstand als wichtiges Dokument die „Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers“, die am 26. August 1789 von der Nationalversammlung beschlossen wurde. Den Grundton geben die ersten beiden Artikel vor: „1. Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Die gesellschaftlichen Unterschiede können nur auf den gemeinsamen Nutzen gegründet sein. 2. Der Endzweck aller politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unabdingbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit und der Widerstand gegen Unterdrückung.“ Diese und die im Folgenden näher aufgeführten Rechte wurden am 3. September 1791 als Einleitung in die Verfassung übernommen, womit ihre rechtliche Verbindlichkeit begründet und bekräftigt wurde. Damit war der Weg beschritten, der ungeachtet mancher Rückschläge zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 führte.
Wo stehen wir heute? Die ursprünglich vorgesehene Konzipierung der Erklärung als multilateraler Vertrag mit Ratifizierung durch die Mitgliedsstaaten konnte zwar nicht durchgesetzt werden. Sie ist deshalb kein die Staaten unmittelbar bindendes Recht. Völkerrechtlich gesehen handelt es sich lediglich um einen Aufruf der UNO an ihre Mitglieder, die Menschenrechte zu beachten und ihre innere Rechtsordnung nach ihnen auszurichten. Aber dieser Appellcharakter entfaltet Wirkungen.
Beispielhaft wurde dies für Deutschland in den Artikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes und vielen einfachgesetzlichen Bestimmungen realisiert. Darüber hinaus ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Grundlage zahlreicher internationaler Pakte und Deklarationen, mit denen die Menschenrechte für bestimmte Regionen und Sachverhalte Verbindlichkeit erlangen. Ihre Bedeutung für die Entfaltung und Entwicklung des humanitären Völkerrechts kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Und nicht zuletzt ist ihre politische Bedeutung zu betonen. Wer Menschenrechte einfordert, kann sich dabei auf den erklärten Willen der Weltgemeinschaft berufen. Staaten, die gegen Menschenrechte verstoßen, versuchen dies entweder nach Möglichkeit zu verbergen oder zu leugnen, oder sie werden unter Rechtfertigungszwang gesetzt. Freilich, die weltweite Lage der Menschenrechte ist nach wie vor unbefriedigend, und ihre Verbesserung bleibt eine ständige Aufgabe; aber es ist eine Aufgabe, die sich lohnt!
Dieter Sienknecht, geboren 1933, arbeitete nach Abitur und Studium der Erziehungswissenschaft in der Sozialversicherung. Dort auch in der beruflichen Aus- und Fortbildung sowie in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit tätig. Im Ruhestand Studium der Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft mit Abschluss M.A., Mitglied von Amnesty International in der Gruppe 1534, Referent für Menschenrechtsfragen. In der eva wissen-Reihe vom Autor erschienen: Menschenrechte (2005), Sozialpolitik (2007).